Die Drachenbande - Die neue Buchreihe von florian und Peter Freund!
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Leseprobe aus: "Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx"

Laura legte sie sich nieder, schloss die Lider und atmete tief durch. Das ausdauernde Üben schien endlich Früchte zu tragen. Jedenfalls bereitete es ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten, sich in jenen Schwebezustand zu versetzen, der es den Wächtern schon seit Anbeginn der Zeiten ermöglichte, ihren Geist aus den Fesseln der Gegenwart zu befreien, damit er, losgelöst von allen Beschränkungen der Materie, frei zwischen Raum und Zeit umherschweifen konnte. Fast ohne ihr Zutun kamen die uralten Verse über ihre Lippen:

"Strom der Zeit, ich rufe dich;

Strom der Zeit, erfasse mich!

Strom der Zeit, ich öffne mich;

Strom der Zeit, verschlinge mich!"

Noch ehe Laura wusste, wie ihr geschah, wurde sie von reinem Licht eingehüllt. Um sie herum wurde es überirdisch hell, sodass sie trotz der geschlossenen Augen geblendet wurde. Ein gewaltiges Brausen erfüllte ihre Ohren. Ein Wirbel aus Strahlen umkreiste sie, drehte sich schneller und schneller, bis sie unwiderstehlich in seine Mitte gesogen wurde - und da wusste sie, dass sie ihre Reise in eine Dimension angetreten hatte, die mit dem menschlichen Verstand allein nicht mehr zu erfassen war.

Als das kreisende Licht erlosch und das Rauschen verstummte, öffnete Laura die Augen. Im ersten Moment erkannte sie - nichts. Nur ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase: Es roch nach säuerlichem Schweiß und - Bohnerwachs, wenn sie sich nicht täuschte. Dann, allmählich, lösten sich die Konturen von Möbeln aus der Dunkelheit. Laura konnte Regale erkennen, einige Truhen und Glasvitrinen - offensichtlich war sie exakt am Ziel ihrer Traumreise angekommen: im großen Ausstellungsraum des Drachenmuseums von Drachenthal. Draußen, vor den beiden kleinen Fenstern, herrschte tiefe Finsternis. Die Nacht war bereits hereingebrochen, und da sich außer ihr niemand im Museum zu befinden schien, hatte es die Pforten wohl schon vor einiger Zeit geschlossen. Wenig wahrscheinlich also, dass ihr bei dem Abstecher in die Vergangenheit jemand in die Quere kommen würde. Laura atmete auf, auch wenn die alles entscheidende Frage noch immer nicht geklärt war: Hatte ihre Reise durch Zeit und Raum sie auch zum gewünschten Tag geführt? Zum 12. Juli 1904? Zumindest deutete die drückende Hitze, die trotz der späten Stunde immer noch in den Räumen lastete, darauf hin, dass es Hochsommer war und Laura zumindest die richtige Jahreszeit erwischt hatte.

Gespannt blickte das Mädchen sich um. Das Mobiliar wirkte altertümlich und entsprach in keiner Weise der Ausstattung des Museums, die Laura von ihrem letzten Besuch noch bestens in Erinnerung hatte. Die Möbel bestanden vornehmlich aus Holz und Glas und zeugten von ebenso schlichter wie solider Handwerksarbeit. Nirgendwo war auch nur eine Andeutung von Kunststoff zu entdecken. Anstelle der Neonlampen hingen zwei armselige Leuchten mit antiken Glasschirmen von der Decke. Die verrußten Kolben unter den Schirmen, die ebenfalls aus Glas gefertigt waren, ließen vermuten, dass es sich um Gaslampen handelte.

Der Fußboden bestand aus blanken Holzdielen. Sie waren dunkel gestrichen - braun vermutlich, auch wenn Laura das im schummerigen Licht des Mondes, das durch die kleinen Fenster fiel, nicht erkennen konnte. Allerdings hatte sie Wichtigeres zu tun, als sich Gedanken über die Farbe der Dielen zu machen. Rasch huschte sie zur Ausgangstür. Sie war aus massivem Holz getischlert. Laura stellte erleichtert fest, dass sie sich trotz heftigen Rüttelns nicht einen Millimeter bewegte. Wunderbar! Ohne Schlüssel würde niemand die Räume des Museums betreten können, während sie sich umsah!

Die einzigen Fenster befanden sich in der Stirnwand des Raumes und waren mit dicken Eisengittern gegen Einbruch geschützt. Als Laura einen Blick nach draußen warf, war sie im ersten Moment doch ein wenig überrascht, wie hoch die Stadtmauern links und rechts vom Museumsgebäude aufragten. Kleine Häuser schmiegten sich ganz eng nebeneinander an die stabile Mauer. Dicht vor den ärmlichen Behausungen lief ein schmales, mit Kopfstein gepflastertes Gässchen entlang, das auf der anderen Seite ebenfalls von schindelgedeckten Holzhäusern gesäumt wurde. Die Gasse war ebenso menschenleer wie der kleine Platz, der sich vor dem Museum öffnete. An seinem jenseitigen Ende erhob sich ein schlichtes Kirchlein, dessen Dach mit Holzschindeln gedeckt war. Im Turm konnte Laura die schemenhaften Umrisse zweier Glocken erkennen. Bei den schwarzen Fäden, die von ihnen herunterhingen, musste es sich um die Zugseile handeln, mit deren Hilfe sie geläutet wurden. Klar: Ein automatisches Läutwerk war damals vermutlich so gut wie unbekannt.

In unmittelbarer Nähe der Kirchentür stand eine einsame Gaslaterne, die ihr funzeliges Licht in die mondhelle Nacht schickte. Es reichte nicht weiter als ein paar Schritte - aber wem hätte es auch leuchten sollen? Den Ratten vielleicht, die schattengleich dicht an den Hausmauern entlangstrichen, um dann blitzschnell in einem der vielen mannshoch aufgeschichteten Holzstapel oder in den windschiefen Vorratsschuppen zu verschwinden? Oder den Katzen, die so träge umherschlichen, als hätten sie ihren Hunger längst gestillt und würden nur noch auf den nächsten Tag warten, um diesen zu verdämmern? Der voll beladene Heuwagen jedenfalls, der so dicht vor einem Schuppen stand, als wolle er sich daran anlehnen, benötigte bestimmt kein Licht.

Drachenthal lag im tiefen Schlaf. So weit Laura auch blicken konnte, nirgendwo war eine Menschenseele zu entdecken, und nicht eines der Fenster und Luken war auch nur vom mattem Lichtschein erhellt.

Gut so!

Die alten Dielen knarrten, während Laura suchend durch die Reihen der Exponate strich. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Nicht lange, und Laura stand vor dem Regal, dessen Nummer sie sich gut eingeprägt hatte: C3. Wenn die Angaben in der Inventurliste stimmten, mussten die Aufzeichnungen von Muhme Martha im zweiten Fach zu finden sein. Zu ihrer Überraschung aber war es leer.

Eigenartig.

Laura wunderte sich. War der Eintrag falsch? Oder hatte Frau Wegener ihn nur nicht korrekt entziffert? Vielleicht hatte sie sich ja auch schlichtweg verhört? Schließlich war die Handyverbindung so schlecht gewesen, dass sie die Stimme der Museumsleiterin nur ganz verzerrt hatte hören können. Aber wie auch immer: Im zweiten Fach von Regal C3 war nichts zu finden.

Na, super! Das fängt ja gut an!

Als Laura sich auf die Suche nach einer Kerze machte, entdeckte sie in der hintersten Ecke des Raumes einen einfachen Schreibtisch, auf dem eine Petroleumlampe stand. Zwar waren nirgendwo Streichhölzer oder sonstige Zündhilfen zu entdecken, aber das bekümmerte Laura nicht. Vorsichtig nahm sie den Glaskolben ab, der die Flamme vor Zugluft schützen sollte, öffnete die Zufuhr und starrte mit höchster Konzentration auf den mit Petroleum getränkten Docht. Nur Augenblicke später entzündete er sich mit einem leisen Knistern. Laura setzte den Kolben wieder auf und regelte die Flamme so, dass sie ein angenehm warmes Licht spendete. Schon griff sie zur Lampe, um die Suche zu beginnen, als ihr Blick auf alte Kladden fiel, die am Rande des Tisches aufstapelt waren. Auf dem Etikett des obersten Heftes stand ein Name. Nur mit Mühe konnte Laura die altertümliche Handschrift entziffern. Als ihr das endlich gelungen war, hätte sie am liebsten vor Freude aufgeschrien. "Martha Anderle" stand da geschrieben. Und "Martha Anderle", das war niemand anders als Mume Martha, wie sie sich sofort erinnerte.

Papas Urgrossmutter!

Was nur bedeuten konnte, dass es sich bei den aufgetürmten Kladden um deren Nachlass handelte.

Aufgeregt eilte das Mädchen um den Tisch herum, um sich auf den dahinter stehenden Stuhl zu setzen. Da erst bemerkte es den Kalender an der vom flackernden Lichtschein erhellten Wand. Das Kalenderblatt zeigte, dass der erste Eindruck nicht getrogen hatte: Es war tatsächlich Hochsommer.

Juli - um genauer zu sein. Der 12. Juli 1904 - um ganz genau zu sein.

"Ja!", jubelte Laura und ballte die Faust. Ihre Traumreise hatte sie also nicht nur ans richtige Ziel geführt, sondern sie auch genau am gewünschten Tag ankommen lassen und ihr zudem die dringend benötigten Dokumente in die Hände gespielt!

Jetzt galt es nur noch, in dem guten Dutzend Hefte Muhme Marthas Notizen über das Schwert des Drachentöters zu finden. Was nicht so einfach war. Die engzeiligen Einträge in den Kladden waren allesamt in ihrer altmodischen Handschrift gehalten, und so dauerte es geraume Zeit, bis Laura endlich die sehnsüchtig gesuchten Abschnitte entdeckte.

Schon nach wenigen Zeilen jedoch dämmerte ihr, dass sie eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht hatte. Marthes Nachforschungen hatten Dinge zu Tage gefördert, die all das, was Laura bislang über Burg Ravenstein und seine Geschichte wusste, in einem ganz anderen Licht erscheinen ließen. Mit großen Augen und weit aufgerissenem Mund überflog sie Seite um Seite. Je mehr sie las, desto mehr Zusammenhänge erschlossen sich ihr, von denen sie bislang nicht das Geringste geahnt hatte. Muhme Marthas Erkenntnisse waren so aufregend, dass Laura in sie eintauchte wie in eine fremde faszinierende Welt und darüber alles um sich herum vergaß.

Ein Klirren ließ Laura hochschrecken. Verwirrt blickte sie sich um. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon an diesem Schreibtisch im Museum saß. Allerdings kam sie nicht dazu, weiter darüber nachzusinnen, denn noch im gleichen Augenblick bemerkte sie den brennenden Stofffetzen. Er lag am Fuße des Regals, das den Fenstern am nächsten stand. Die Flammen - dem Geruch nach zu urteilen, war der Lappen mit Petroleum getränkt - loderten hoch auf und leckten nach den Büchern und Pergamenten, die das Regal füllten.

Laura erkannte die Gefahr sofort: Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis die leicht brennbaren Dokumente Feuer fingen. Sie sprang so plötzlich auf, dass der Stuhl polternd umkippte, und hastete quer durch den Raum auf das Regal zu. Noch im Laufen bemerkte sie, dass ein großes Loch in der Scheibe eines Fensters klaffte. Jemand musste sie eingeschlagen haben, um den Brandsatz ins Innere des Museums zu schleudern!

Obwohl Laura sprintete, wie von tausend Teufeln gehetzt, kam sie zu spät. Die Dokumente hatten bereits Feuer gefangen. Die alten Schwarten und Exponate brannten wie Zunder und boten den Flammen reichlich Nahrung. Angefacht von dem Luftzug, der durch das Fenster wehte, verbreiteten sie sich blitzschnell und sprangen auf andere Regale und auf Truhen und Vitrinen über. Schon bald loderten sie in allen Ecken.

Das Drachenmuseum war nicht mehr zu retten. Wie auch? Schließlich waren die verheerenden Folgen des Brandes in den Annalen von Drachenthal nachzulesen. Einmal Geschehenes konnte niemand mehr rückgängig machen. Selbst ein Wächter nicht, der im Zeichen der Dreizehn geboren war. Laura musste einsehen, dass sie keine Chance zum Eingreifen hatte. Sie konnte nur eines tun - sich so schnell wie möglich selbst in Sicherheit bringen.

Gerade wollte sie die Augen schließen, um sich in den Tunnel zu begeben - in jenen Trancezustand, der ihr die Rückkehr in die Gegenwart ermöglichte -, als ihr Blick noch einmal nach draußen fiel, auf die Holzhäuser mit den knochentrockenen Schindeldächern. Auf die dürren Holzstapel und die ausgedorrten Bretterwände der Schuppen. Und auf den hoch mit Heu beladenen Wagen. Jetzt, mitten in der sommerlichen Hitzeperiode, würde ein einziger Funke genügen, um sie allesamt in Brand zu stecken! Drachenthal stand vor einer schrecklichen Katastrophe - und keiner der Bewohner ahnte auch nur im Geringsten von der tödlichen Gefahr, in der sie alle schwebten. Wenn sie nicht umgehend alarmiert wurden, würden Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Menschen im Schlaf sterben. Nein, sie durfte sich nicht einfach so aus dem Staub machen. Sie musste die Ahnungslosen warnen, und zwar so schnell wie möglich!

Im Museum war es bereits unerträglich heiß und stickig geworden. Hustend packte Laura einen Stuhl und stürzte damit zum Fenster. Sie wollte die Scheibe gerade vollends zerschmettern, als sie eine Gestalt über den Kirchplatz davonhasten sah.

Der Feuerteufel?

Eben lief er an der Gaslaterne vorbei, die sein Gesicht für wenige Augenblicke erhellte. Es war Konrad Köpfer!

Der Rote Tod!

Plötzlich blieb der Albino stehen, drehte sich um und schaute zu ihr herüber. Offenbar konnte er sie hinter dem vergitterten Fenster erkennen, denn ihr war, als balle er triumphierend die Faust, bevor er hinter der Kirche verschwand.

Die Scheibe ging schon beim ersten Schlag klirrend zu Bruch. Gleich einem Schalltrichter schloss Laura die Hände um den Mund und brüllte aus Leibeskräften: "Feuer! Feuer! Feuer!" Immer und immer wieder.

Nichts geschah. Offensichtlich hörte sie niemand.

Was sollte sie nur tun?

Das Prasseln der Flammen in ihrem Rücken wurde heftiger und ging in ein bedrohliches Fauchen über.

"Feuer!", schrie Laura, bis sie heiser wurde. "Feuer! Feuer!"

Doch noch immer tat sich nichts.

Die Bürger von Drachenthal schienen allesamt über einen tiefen Schlaf zu verfügen. Verzweiflung befiel Laura. Was konnte sie sich denn noch einfallen lassen, um die Drachenthaler zu warnen? Eine Sirene gab es im Jahre 1904 mit Sicherheit nicht! Und selbst wenn: Wie hätte sie Alarm auslösen können? Damals warnte man die Menschen doch meistens durch Glockenge-

Natürlich!

Hinter Laura brannte es bereits lichterloh. Aus dem Fauchen des Feuers war ein Brüllen geworden. Schon standen die Deckenbalken in Flammen, die sich in ihrer unersättlicher Gier unaufhaltsam in das obere Stockwerk fraßen. In Lauras Rücken war es glühend heiß. Sie bekam kaum noch Luft, und der Schweiß ließ ihr aus allen Poren, während sie versuchte, alle störenden Eindrücke und Empfindungen auszublenden. In höchster Konzentration starrte sie auf die Glocken im Kirchturm am anderen Ende des Platzes. Würde sie es schaffen, sie Kraft ihrer Gedanken zum Schwingen zu bringen? Ihnen über eine Distanz von mehr als dreißig Meter ihren Willen aufzuzwingen?

Sie musste es einfach! Sonst waren die Menschen von Drachenthal hilflos dem Tod geweiht!

Eine Feuerwand wälzte sich unaufhaltsam auf Laura zu. Doch das Mädchen bemerkte das nicht: Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, fixierte es die Glocken im Kirchturm. »Läutet!«, befahl es ihnen.

»Läutet und schlagt endlich Alarm!«

Schon sah es so aus, als sei alle Mühe vergebens, als sich die Kirchenglocken doch noch in Bewegung setzen. Kaum wahrnehmbar zunächst, dann immer weiter und weiter, begannen sie zu schwingen, bis ihr mächtiges Geläut weithin über die Dächer der Stadt dröhnte.

"Ja!", jubelte Laura, als die ersten Fenster und Türen geöffnet wurden und in Nachtgewänder gehüllte Menschen schlaftrunken ins Freie wankten.

Laura spürte die mörderische Hitze und gewahrte plötzlich, dass ihre Kleider schon ganz versengt rochen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Haare Feuer fingen. Wie ein Schwerthieb traf Laura die Erkenntnis: Es ist zu spät! Ich kann nicht mehr zurück! Bis ich mich in Trance versetzt habe, bin ich längst verbrannt!

*****

Morwena stellte den Becher mit dem Schlaftee auf dem Tisch ab und wandte sich an den Hüter des Lichts. "Lasst ihn Euch munden, Herr."

" Was führst du denn diesmal im Schilde? ", fragte Elysion streng und blickte die Heilerin eindringlich an.

Röte färbte die Wangen der jungen Frau. "Ich weiß, worauf Ihr hinauswollt, Herr", sagte sie rasch. "Es tut mir Leid wegen neulich. Aber der Tee hätte Euch bestimmt nicht geschadet, selbst wenn Ihr zwei Becher davon getrunken hättet."

"Das habe ich aber nicht." Elysion erhob sich. "Zum Glück! Sonst hätte ich wahrscheinlich nicht mitbekommen, was Paravain umtreibt. Und dich offensichtlich auch."

Morwena senkte den Kopf und schwieg.

Der Hüter des Lichts trat dicht an sie heran. "Ist es nicht so, Morwena?"

Die junge Frau atmete tief durch, bevor sie gequält nickte. "Ja, Herr. Auch ich mache mir Sorgen. Darüber, was mit diesem Schwert auf dem Menschenstern geschehen wird, und darüber -"

"- wie es Paravain ergehen mag?", fiel Elysion ihr ins Wort.

Morwena schnappte nach Luft. "Ihr wisst, Herr?"

"Natürlich! Oder hast du geglaubt, ihr könntet Geheimnisse vor mir haben?" Der greise Mann sah die Heilerin eindringlich an. "Glaubst du wirklich, ich wüsste nicht, was der Ritter vorhat? Er will diesem Mädchen eine Botschaft schicken, damit sie sich auf die Suche nach Hellenglanz macht, nicht wahr?"

"Ja, Herr." Die Heilerin fasste Mut. "Laura muss das Schwert vor unseren Feinden finden, sonst droht uns Unheil. Und deshalb muss er sie unbedingt warnen!"

Nachdenklich musterte Elysion die junge Frau. Kein Ton war zu hören im riesigen Thronsaal von Hellunyat, und selbst von draußen, vom Burghof her, erklang kein einziger Laut, bis der Hüter des Lichts erneut den Mund öffnete. "Und was wäre, wenn genau das Gegenteil einträfe?"

Morwena blieb stumm und wurde kreidebleich.

"Was wäre, wenn uns nur deswegen ein schreckliches Unheil droht, weil er sie zu warnen versucht?"

Die Heilerin schüttelte den Kopf. "Das übersteigt meine Vorstellungskraft."

"Wirklich? Habe ich dir und Paravain nicht beigebracht, dass alles zwei Seiten hat? Dass das Gute nicht ohne das Böse existieren kann, und das Licht nicht ohne das Dunkel vorstellbar ist?"

"Doch, natürlich!"

"Siehst du? Und so beinhaltet jede gute Absicht auch ihr genaues Gegenteil, und es ist nicht immer ausgemacht, was am Ende überwiegt!"

"Ich -", hob Morwena an, als sie wie vom Blitz gefällt zusammensackte und zu Boden ging. Ihr zierlicher Körper bäumte sich auf und begann zu zucken, mehr und mehr, bis er von wilden Krämpfen hin und her geworfen würde.

Elysion fiel neben Morwena auf die Knie und barg ihren Kopf im Arm. Während er mit sanften Worten auf die Heilerin einsprach, trug er dafür Sorge, dass sie sich nicht auf die Zunge biss.

Der Anfall war so schnell vorüber, wie er gekommen war.

Als Morwena die Augen aufschlug, fühlte sie sich benommen.

Der Hüter des Lichts lächelte ihr beruhigend zu. "Alles in Ordnung?"

Die Heilerin nickte. "Ich ... Ich hatte eine Vision."

Wieder lächelte Elysion. "Ich weiß. Ich habe das schon bei vielen deiner Vorgängerinnen miterlebt. - Was hast du gesehen?"

"Es ..." Morwena blickte ihn gequält an. "Es war alles so undeutlich."

"Das ist es meistens. Versuche dich trotzdem zu erinnern."

"Da war ..." Der Blick der jungen Frau ging in die Ferne und wurde starr. "Da war ein Feuer. Ein mächtiges Feuer ..."

"Und weiter?"

"Es brachte den Tod!"

"Wem, Morwena?" Der Hüter des Lichts packte sie hart an den Schultern. "Wem brachte es den Tod?"

Als litte sie unter heftigen Qualen, schüttelte die Heilerin den Kopf. "Ich weiß es nicht - wirklich nicht. Und dann war da ein Drache ... und Angst und Schrecken brachen aus."

"Und sonst? Hast du sonst noch was gesehen?"

"Ein Schwert ... Da war noch ein Schwert ... Aber es war zerbrochen."

Elysion wurde blass. "Es war zerbrochen?"

"Ja - in drei Teile."

"Oh, nein!" Der Hüter des Lichts stöhnte auf und schien wie zu Stein erstarrt, bis er plötzlich aufsprang und die Heilerin hochzog. "Schnell, Morwena!", befahl er ihr. "Rufe Pfeilschwinge herbei! Wir müssen Paravain warnen, sonst wird Grauenvolles geschehen!"

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Leseprobe aus "Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx"; Ehrenwirth © 2004, S. 235 - 246

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